Das schematische Geheimnis

Auf den Kopf gestellt – Etwas zu verdrehen, oder zurückzudrehen, um es dadurch in die richtige Stellung zu bringen, war eine Methode der Surrealisten. Eine Verfremdungstheorie der Produzenten wie der Rezipienten. Bilder enthalten verschlüsselte Botschaften und sie als Rätsel zu betrachten, setzt natürlich voraus, daß es Hintergründe hinter Vordergründen gibt, weil Eindeutigkeiten immer nur Symbole des Stillstandes oder des Todes sind. Es gibt Rätsel, die der Künstler bewußt geplant und versteckt hat, und es gibt Rätsel, die unbewußt entstehen, die soziologisch und psychologisch Verhältnisse zu Orten und Zeiten und anderen Menschen herstellen. Die erste direkte Lösung eines Rätsels ist oft falsch, weil sie zu einfältig ist, die zweite indirekte Lösung ist oft richtig, weil sie die erste Lösung mit einschließt.

Tonci Cenic ist ein Übermaler, das heißt er malt auf schon vorhandenen Bildern (gedruckten Plakaten). Man könnte auch sagen, er entwickelt sie quasi zu einer Vorstufe zurück, denn dabei werden sie überindividuell, entdifferenziert und schematisch. Der Betrachter sieht nur das vorläufige „Ergebnis“, tiefere Schichten sind übermalt. Was zum Schluß herauskommt, sind von einer konkreten Funktion „befreite“ Bilder.


Die göttlichen Schemen – Cenics Malerei ist schematisch. Nach einer Definition aus dem 18. Jahrhundert des gr.-lat. Wortes „schema“ heißt das „in den Grundzügen“ dargestellt, anschaulich zusammengefasst, gleichförmig und gedankenlos. Die Definition, „schema“ trifft, finde ich, mehr als den Malstil von Tonci Cenic, denn es steckt mehr dahinter.

Die Schemen, wie elfenähnliche Wesen halten als Grundformen statisch die materielle Welt zusammen. Ihre Konstellationen, ihre seriellen Stellungen untereinander, zeigen skizzenhaft das dramatische Zusammenspiel, die Berührungen der Flächen, nur tragen sie keine persönlichen ˝Masken,˝ weil sie einfach nicht mit wiederer-kennbaren Merkmalen ausgestattet sind. Gedankenlosigkeit oder -freiheit beim Malvorgang ist eine Grundvoraussetzung.

Tonci Cenic ist ein Retrograph, denn mit seiner Übermalungstechnik legt er Grund-schemen frei, die unsichtbar in allen funktio-nalen Bildern, wie Werbeplakaten, zu finden sind, nur weil wir gewöhnlich den Vordergrund für bedeutender halten, fällt uns das nicht auf. Bilder dürfen eben nicht zuende gemalt werden, denn ein fertiges Bild ist wie ein beendetes Leben. Also vorwärts in das Rückwärts und von vorn...

Hamburg, den 21.04.02 Michael Keesmeyer



„Lieder-Gedichte-Gedachtes“

Assoziationen zur Funktion von Gedächtnis und Collage in Malerei und Grafik von Tonci Cenic. Im Falle von Tonci Cenic rückt die Wahrnehmung einer Grenze zwischen Wahrnehmung, Begriff und Gefühl vom Rand ins Zentrum–und parallel werden die Ränder des Blattes mit seinen begrenzenden vier Seiten gleichgewichtig behandelt. „Bilder sollen atmen“, sagt der Künstler Cenic, und möchte „malen, wie Keith Jarrett improvisiert“. Ein aus der Festlegung der kleinen Melodieund des farblichen Klangs (auch Typografie und Figur) assoziativ entwickeltes Spiel. Vermischung ist Synkretismus und charakterisiert tatsächlich auch die als Widerstands-Signet synkopierten Rhythmen im Jazz: das Stolpern Buster Keatons als Zeichen einer überdrehten Zeit, in der nur das Hemmwerk helfen kann. Die Vermischung heterogenen Materials zu neuer Gestalt aus Elementen einer Sprache, die sich nur aus sich selbst entwickelt, wird zur Hoffnungs-Metapher. Zeichnung, Begriff und Farbe werden atmo-sphärische Zeichen, die flüchtig sind und verloren gehen können wie die Menschen und ihre Gefühle. In diesem Sinne wird Malerei ein Rettungsakt: Bewahrung von Momenten, Augenblicken und Emotionen vor der Furie des Verschwindens.

Hamburg, 1998 Gunnar F. Gerlach